Die Industrie beim Wort nehmen

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DIE SACHE MIT DEN FALSCHEN VERSPRECHUNGEN BEGANN LANGE VOR DER DISKRIMINIERUNG.

In einem Industriemagazin aus Österreich bin ich auf eine Überschrift gestoßen, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Da heißt es: „Viele Versprechen der Digitalisierung wurden noch nie eingelöst“.

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Ich dachte sofort: Das stimmt! Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die Überschrift müsste lauten: „Die großen Versprechen des Industriezeitalters wurde nie eingelöst.“ Denn die Sache mit den falschen Versprechungen begann lange vor der Digitalisierung. Das wurde nur in der Digitalisierung fortgesetzt.

Ich rede davon, dass Maschinen ja erfunden wurden, um den Menschen zu dienen. Angefangen beim Fließband, über die ersten Industrieroboter bis hin zum automatischen Anrufbeantworter und dem Smartphone. Maschinen und Automaten sollten uns Arbeit abnehmen, uns das Leben erleichtern. Uns wurde versprochen, dass Produkte billgiger werden und wir Freizeit und Freiheit gewinnen.

Aber was passiert denn wirklich, seit etwa zweihundert Jahren? Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz, weil Maschinen den Job billiger machen.  Vor allem bei sogenannten „geringqualifizierten“ Tätigkeiten. Aber – haben die Menschen Freiheit und Freizeit gewonnen? Nein! Sie wurden oft arbeitslos und mussten nun mehrere, schlecht bezahlte Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Sie verloren ihre Perspektive und die Wertschätzung in der sozialen Gesellschaft. Und die Produkte oder Leistungen? Werden sie durch Maschinen billiger und besser? Nun, ich will nicht den Fortschritt bestreiten. Aber schauen wir mal genau hin: Produkte sind nicht erheblich billiger geworden, sondern die Industrie und ihre Aktionäre machen nun einfach größere Gewinne. Und was die Qualität angeht? Würde jemand behaupten, dass man über Telefoncomputern und automatische Warteschleifen besser und schneller zum gewünschten Ziel kommt, als früher, wo noch Menschen den Hörer am anderen Ende abgenommen haben? Wohl kaum.

Ist es nicht vielfach so, dass wir Menschen heute eher Hilfsarbeiter und Handlanger für all jene Dinge geworden sind, die Maschinen und Automaten nicht können. Das „System“ sagt den Fahrern eines Logistikunternehmens, welches Paket wohin soll. Aber die Menschen müssen es zu Frau Müller in den vierten Stock schleppen.  Der Telefoncomputer ist nicht schlau genug, um unser Problem zu lösen. Er funktioniert nur, weil wir  geduldig oder verzweifelt genug sind, uns minutenlang durch irgendwelche Menüs zu hangeln. Dabei sollten wir alle mit Fackeln und Mistgabeln vor den Zentralen der Konzerne dafür demonstrieren, dass endlich wieder qualifizierte Menschen ans Telefon gehen.
Wir be-dienen unsere Maschine mit Informationen und benötigen manchmal stundenlang für etwas, dass ein Mensch in wenigen Minuten gelöst hätte.

Es stimmt also irgendwie: Die Indsutrie mit all ihrer Automatisierung verspricht der Menschheit seit zweihundert Jahren ein besseres Leben. Aber wir haben uns nie gefragt, was dieses „besser“ bedeutet. Ja, wir haben mehr Luxus – ohne Frage.  Aber sind wir glücklicher? Genießen wir mehr Freiheit? Leben wir unsere Träume? Entfalten wir unsere Kreativität? Eher nicht. Wir haben nur eine Art von Stress gegen eine neue Art von Stress getauscht.

Nun beginnt das Zeitalters der kognitiven Robotik. Ein technolgische Quantensprung. Wir werden erstmals die handfesten, materiellen Errungenschaften des Industriezeitalters mit den digitalen und virtuellen Möglichkeiten des Internetzeitalters kombinieren können. Ja, wir können jetzt Maschinen zu bauen, die uns Menschen dienen, uns mehr Freiraum und Freizeit verschaffen.

Doch dazu müssen wir diesmal den Mut haben, ein paar Regeln in unserem sozialen Miteinander neu zu definieren. Wir müssen umdenken. Wir können keine Leistungsgesellschaft mehr sein, in der wir den Wert eines Menschen daran messen, wie viel Druck und Stress sie oder er verträgt oder wie viele Jobs jemand gleichzeitig machen kann. Wenn Roboter bestimmte Tätigkeiten übernehmen, muss sicher gestellt werden, dass die Menschen davon wirklich profitieren. Das geht nur auf, wenn Roboter, die qualifizierte Tätigkeiten übernehmen können, auch Ihren Beitrag zu den Sozialsystemen leisten. Wir müssen die Frage stellen, wie künftig die gesamte Gesellschaft von technischem Fortschritt profitiert – nicht nur ein paar Aktionäre der Konzerne. Denn schließlich hat ja die ganze Gesellschaft – mit ihrer Kreativität, ihren sozialen Errungenschaften und Herausforderungen – diese Fortschritte und die Erfindungen erst ermöglicht.

Leute, die Sache mit den Robotern ist nicht mehr aufzuhalten. Aber wir müssen jetzt schnell vieles neu denken, damit das eine richtige Erfolgsgeschichte für die ganze Menschheit wird.

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