Die Macht der Vision

LESEZEIT
6 MIN

Jedes heute unverzichtbare Produkt war zuerst nur eine Idee.

In der Gründerzeit brachten Daimler, Maybach, Bosch & Co. Deutschland nach vorne. Ihr Antrieb waren Visionen, Technikbegeisterung und ein ausgeprägtes «Wir-Gefühl»

macht-der-vision_portrait

Es ist eine völlig selbstverständliche Sache: Ich sitze im Auto von Metzingen nach München. Was vor 200 Jahren mit der Postkutsche 5 Tage dauerte, schaffen wir heute in etwas mehr als zwei Stunden. Und da diesmal ein Kollege am Steuer sitzt, habe ich – ebenso selbstverständlich – den Laptop aufgeklappt und arbeite an diesem Text. Aber wieso ist das alles eigentlich selbstverständlich? Nur weil ich Auto und Laptop immer zur Hand habe? Neura Robotics in Metzingen ist 40 Kilometer von Bad Cannstatt entfernt, wo Gottfried Daimler erst ein Motorrad, dann eine Draisine und anschließend den Stahlradwagen baute. Das geschah in den 1880ern. Diese Jahre waren eine ganze besondere Epoche: Der Fabrikant Artur Junghans, der zu dieser Zeit in Schramberg im Schwarzwald die später größte Uhrenfabrik der Welt gründete, nannte sie «das technik-begeisterte Jahrzehnt». Was er damit meinte? «Wir glauben, dass wir mit Technik alle Probleme lösen können», schrieb er. Die Betonung lag dabei auf dem «Wir».

Das Wir als treibende Kraft

Dieses «Wir-Gefühl» war omnipräsent. Firmengründer, Ingenieure und Techniker unterstützen sich gegenseitig. So kaufte Artur Junghans als einer der Ersten dem notorisch unterfinanzierten Gottfried Daimler ein Auto ab. Als dieses Gefährt mit Wilhelm Maybach am Steuer auf den steilen Schwarzwaldstraßen zwischen Sulgen und Schramberg Feuer fing, setzte sich Junghans auf den Hosenboden und tüftelte an einer Technik, welche die gefährliche Glühkolbenzündung ersetzen konnte. Da er selbst keine Zeit hatte, die Idee voranzutreiben, gab er sie einem talentierten jungen Techniker namens Robert Bosch. Der entwickelte daraus die Zündkerze, und aus der Zündkerze entstand ein Weltkonzern. Ist das nicht großartig? Stellen wir uns vor, Junghans hätte gesagt, was heute gang und gäbe ist: Diese Idee gehört mir, von ihr soll keiner profitieren. Unsere Welt hätte sich viel schlechter  entwickelt. Wenn wir heute überhaupt irgendwo eine ähnliche Offenheit finden, dann beim Open Source-Weg. Dabei wird dezentral an Software gearbeitet, deren Quellcode öffentlich ist. Auf diese Weise können viele kluge Köpfe ihren Teil dazu beitragen, eine Technologie voran zu bringen. Das geschieht aus uneigennützigen Motiven, oder um hohe Entwicklungskosten zu teilen.

Weshalb wir in Wohlstand und Frieden leben.

Kürzlich saß ich bei einer Podiums-Diskussion mit hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Einmal mehr ging es um die Chancen der kognitiven Robotik, und einmal mehr machte ich deutlich, welche Trümpfe wir hierzulande in Händen halten. Wobei ich sagen muss, hierzulande noch in Händen halten, und dieses noch muss ich unterstreichen und fett drucken. Noch sind wir in der Lage, Technologien zu entwickeln, die besser sind, als es der Rest der Welt hinkriegt. Noch sind wir in der Lage, von diesem technologischen Vorsprung unserer Hidden Champions gut zu leben. Noch haben wir deshalb Wohlstand und Frieden im Land. Doch ich sehe mit großem Bedauern, wie wir diese Trümpfe verspielen, und einmal mehr kommt dabei die Politik ins Spiel: Viel zu oft spreche ich mit Politikern, die nicht erkennen und leider auch nicht erkennen wollen, dass es fünf vor zwölf ist. Diese Leute haben es sich in ihren Nischen bequem gemacht – doch die Arbeit eines Hidden Champions ist nicht bequem. Auch wir bei Neura machen es uns nicht bequem. Wir reißen uns buchstäblich den – Ihr wisst was ich meine – auf, und das Tag und Nacht, 24/7. Weil wir wissen: Die Welt da draußen schläft nicht, ganz im Gegenteil. Vor zehn Jahren titelte die renommierte Harvard Business Review: «Why China can´t innovate». Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Das hat die Zeitschrift auch erkannt und schreibt jetzt: «China’s new innovation advantage.» Zehn Jahre gingen ins Land – und in diesen zehn Jahren hat sich die Sachlage komplett gedreht. Zehn Jahre brauchten übrigens auch Daimler, Junghans, Maybach, Benz und Bosch in den 1880ern, um Deutschland in die industrialisierte Neuzeit zu holen. Davor herrschte bittere Armut. Einseitige Ernährung und mangelnde Hygiene waren die Ursache von Krankheit und frühem Tod. In Junghans´ Heimatstadt Schramberg lag die durchschnittliche Lebenserwartung Mitte des 19. Jahrhunderts bei 37 Jahren! Dann kam seine Uhrenfabrik, und mit ihrem Erfolg kam die Elektrizität, das Telefon, Autos, Lebensmittelgeschäfte, Ärzte, Apotheker, Häuser, Bäder, Parks, oder auf einen Nenner gebracht: Es kam der Wohlstand.

Damit kognitive Roboter im Alltag selbstverständlich werden wie es heute Autos und Computer sind.

Daher möchte ich noch einmal daran erinnern, wie die Pioniere der Industrialisierung das geschafft haben: Mit ihren Visionen, mit ihrer Technik-Begeisterung und mit ihrem «Wir-Gefühl». Die Aufgabe, der sie sich stellten, war technisch aufwändig und komplex. Genau das braucht es, weil wir in Deutschland solche komplexe technische Herausforderungen noch immer – da ist es wieder, das gefährliche Wörtchen noch – besser lösen als andere. Kognitive Robotik ist so eine komplexe Aufgabe. Wenn wir durch sie schaffen, was Daimler, Bosch & Co geschafft haben, werden viele Generationen nach uns davon profitieren – so, wie wir heute von den Leistungen der Pioniere profitieren. Das ist es, was mich und mein Team bei Neura antreibt.

Bei der Automate Show 2024 in Chicago, der wichtigsten Automations-Messe in den USA, die vor wenigen Tagen zu Ende ging, waren wir schlichtweg «the talk of the town». Warum? Weil wir unter anderem unseren kognitiven Roboter MAiRA mit integrierter Sicht-, Kraft- und Spracherkennung präsentiert haben. Natürlich nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in den USA, wo ein Roboter, der für Menschen ohne Programmierkenntnisse nutzbar eine kleine Sensation war, wie auch schon auf der Automatica 2022 in München, wo wir MAiRA der Öffentlichkeit erstmals live präsentierten. Und auch die Messebesucher in Chicago vertstanden sofort unsere Idee: Wir müssen heute kein Automechaniker sein, um Auto zu fahren – warum sollte es bei der Anwendung von Robotern anders sein?
Doch im Land des Hypes um Humanoide Roboter hatte unsere MAiRA wachgerüttelt: eine kognitive Roboterplattform, die Personen in der Umgebung sicher erkennt, präzise agiert und durch Software-Apps für unterschiedlichste Aufgaben genutzt werden kann, muss nicht unbedingt humanoid aussehen. Das ist für viele Bereiche in Industrie, Service und Haushalt gar nicht nötig. Jedoch: die Fähigkeiten, die wir mit MAiRA demonstrierten, sind allesamt zwingende Voraussetzung, um einen humanoiden Roboter zu bauen, der an der Seite des Menschen sicher funktioniert. Denn Wahrnehmung, Interaktion und Lernen sind die größere Herausforderung, als vier Arme (Beine sind technisch gesehen ja auch Arme) an einem humanoiden Roboter zu steuern. Warum ich das so sicher bin? Weil wir auf der Automate demonstriert haben, dass unsere intelligente Roboterplattform selbst acht Arme steuern kann. Nachvollziehbar, dass unser Messestand den ganzen Tag umlagert war.

MAiRA – der erste serienreife kognitive Roboter der Welt – ist ein Beweis dafür, dass aus Visionen Realität werden kann, wenn man daran glaubt und dafür arbeitet. Und schon bald werde ich hier schreiben können: Ich habe mit meinen Kindern im Kinderzimmer rumgetobt ohne ans Aufräumen denken zu müssen. Das übernimmt nämlich – während wir gemütlich auf dem Sofa liegen und eine Geschichte lesen – unser Haushaltsroboter 4NE-1. Dieses Szenario wird bald so selbstverständlich sein, wie heute das Autofahren. In Deutschland haben wir im Grunde alles, was es dazu braucht: Die Vision, die Begeisterung für Technologie – und die aktuelle Fußball-Europameisterschaft ist doch ein schöner Anlass, das «Wir-Gefühl» wieder zu entdecken.

ALLE ARTIKEL

LESEZEIT 6 MIN

LESEZEIT 6 MIN

LESEZEIT 6 MIN

LESEZEIT 6 MIN

Zum Journal