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Vordenker sind eine seltene Spezies. Sie gehen dorthin, wo noch niemand war, und beleuchten die dunklen Ecken der Zukunft, damit der Rest von uns den Weg finden kann.
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Vordenker sind eine seltene Spezies. Sie gehen dorthin, wo noch niemand war, und beleuchten die dunklen Ecken der Zukunft, damit der Rest von uns den Weg finden kann.
Am Donnerstag (21. November 2024) wurde mir von der „Vordenkerinitiative2024“ von Handelsblatt und BCG eine schöne Auszeichnung verliehen: „Vordenker in der Kategorie Innovation.“ Das hat mich sehr gefreut, weil es zeigt, dass Vordenker in Deutschland (wieder) wahrgenommen werden. Die Preisverleihung hat bei mir viele Gedanken zum Thema Vordenken getriggert, die ich hier mit Euch teilen will.
In Deutschland lieben wir Titel wie Professor, Doktor, Ingenieur. Wortungetüme machen Eindruck auf uns, wenn sie auf „-schaft“ oder „-wesen“ enden. Jedoch „Vordenker“? Das klingt verdächtig nach jemandem, der nicht im Heute und Jetzt lebt und sich in Träumereien verliert. Dabei ist der Begriff bei näherer Betrachtung ein riesiges Lob. Vordenker sein zu wollen beschreibt einen hohen Anspruch. Wer vordenkt, sieht nicht nur, was ist, sondern erkennt, was kommen wird – und noch wichtiger, was kommen könnte.
Vordenker sind eine seltene Spezies. Sie gehen dorthin, wo noch niemand war, und beleuchten die dunklen Ecken der Zukunft, damit der Rest von uns den Weg finden kann.
Doch genau hier wird es auch tückisch: Vordenken heißt demnach, Risiken einzugehen, Fehler zu machen, und vor allem heißt es, sich unbeliebt zu machen – weil man ggf. auf Missstände hinweist, bevor sie überhaupt sichtbar sind. Deswegen haben es Vordenker in der Politik auch so schwer. Doch dazu gleich mehr.
Im Gegensatz zum Reagieren ist Vordenken eine aktive Disziplin. Ein Vordenker denkt nicht erst dann an den Regenschirm, wenn es bereits wie aus Eimern schüttet. Selbst wenn der Wetterbericht keinen Niederschlag vorhersagt, wird er zum Himmel schauen, Wolken und Wind beobachten und dieses Bild mit seiner Erfahrung vergleichen. Und dann haben Vordenker – passend gekleidet – sogar noch einen zusätzlichen Schirm für andere dabei. Vordenker suchen zwar auch nach Lösungen für mögliche Probleme – sie wollen aber vor allem vermeiden, dass Probleme überhaupt erst entstehen.
Soweit die Theorie. Doch in unserer Zeit gibt es leider eine ganze Reihe konkreter, akuter Herausforderungen nur deshalb, weil wir das Vordenken schon vor langer Zeit verlernt haben. Nehmen wir das System der deutschen Rentenversicherung als Beispiel. Es basiert darauf, dass die arbeitende Bevölkerung die Renten der Älteren finanziert. Klingt einfach und funktioniert gut – solange die Geburtenrate hoch ist, die Bevölkerung wächst und die Wirtschaft boomt. Doch spätestens in den 1990er-Jahren hätte klar sein müssen, dass wir eine alternde Gesellschaft sind. Damals hätte ein mutiger Vordenker Vorschläge gemacht, wie man das System grundlegend verändern könnte, um zukunftsfähig zu sein. Statt dessen hieß es: „Die Rente ist sicher“ und man hat ein paar oberflächliche Schönheitskorrekturen versucht, die nicht nachhaltig waren.
Auch in der Gegenwart werden wir Zeuge von fehlendem Vordenken in der gesamten europäischen Politik. Ja, wir wollen das Folgende nicht gern hören, aber davon ist es nicht weniger zutreffend: Kaum ein deutscher oder europäischer Politiker hat das Szenerio eines Wahlsieges von Donald Trump vorgedacht. Sonst wäre man in der Formulierung einiger Punkte in den vergangenen Monaten und Jahren etwas diplomatischer gewesen. Denn nun haben wir die Situation, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einer von ganz wenigen in der EU ist, die Herrn Trump glaubwürdig, partnerschaftlich die Hand reichen können. Fast die gesamte Deutsche Politik hat sich wieder und wieder in einer persönlichen und unsachlichen Weise zu Trump positioniert, die einem guten Klima mit der neuen Administration nun zumindest nicht dienlich ist. Und verstehen Sie mich richtig, ich bin kein Fan von Trump. Darum geht es aber auch gar nicht. Ich bin ein Fan von Demokratie! Wir haben mit unserer Respektlosigkeit gegenüber einem Präsidentschaftskandidaten letztlich unsere Respektlosigkeit gegenüber den etwa 80 Millionen Wählerinnen und Wählern zum Ausdruck gebracht, die Trump in einer demokratischen Wahl eines souveränen Landes ihre Stimme gegeben haben.
Doch es wäre unfair, den Finger nur auf die Politik zu richten. Beim eben genannten Trump-Beispiel waren auch Wirtschaft und Medien nicht sehr vorausschauend.
Und gerade in der Wirtschaft fällt uns das Vordenken überall dort besonders schwer, wo der momentane Erfolg am größten ist – oder war. Die deutsche Autoindustrie ist ein Paradebeispiel. Jahrzehntelang waren wir die unangefochtenen Weltmeister des Verbrennungsmotors. Und dann der Schock: Tesla tauchte auf und zeigte – auch wenn die Autos technisch nicht perfekt waren – wie man Elektromobilität sexy und marktfähig macht. Die deutsche Industrie reagierte zunächst mit Skepsis und Ablehnung, teilweise sogar mit Spott. Später dann, gezwungener Maßen mit halbherzigen Initiativen. Das Ergebnis? Ein Markt, den man hätte prägen können, wurde verschlafen.
Ein anderes Beispiel ist aus meiner Sicht die Entwicklung der Handelsbeziehungen mit China. Lange Zeit war der chinesische Markt ein Garant für Wachstum. Deutsche Autos galten dort als Statussymbol. Doch heute holen chinesische Automarken massiv auf, unterstützt durch ihre Regierung und zusätzlich mit Fokus auf E-Mobilität. Doch das war nicht überraschend. Ein Vordenker hätte – mit Blick auf die Geschichte – vorhergesehen, dass auch dieser Markt in China ein eigenes Selbstbewusstsein entwickeln würde. So wie einst die Textil- und später die Elektronikindustrie. Wir haben immer gehofft, China und andere asiatische Länder würden ewig ihre Doppelrolle als Billiglohn-Produzenten und Absatzmarkt spielen. Doch welcher Schauspieler spielt schon gern ein Leben lang die selbe Rolle? Noch dazu, wenn man erkennt, dass man mehr sein könnte.
Warum scheuen sich so viele Führungskräfte intuitiv davor, die Verantwortung des Vordenkens ernst zu nehmen? Meine Theorie: Vordenken wird selten in der Gegenwart belohnt. Eine kluge Entscheidung, die erst in 20 Jahren Früchte trägt, sieht heute wie ein unnötiges Risiko aus. Die Ergebnisse des Vordenkens bleiben für den Moment unsichtbar. Wer rechtzeitig handelt, verhindert Probleme. Probleme, die nicht sichtbar sind, bekommen jedoch keine Aufmerksamkeit. Und ohne Aufmerksamkeit lässt sich weder in der Politik noch in der Wirtschaft Karriere machen. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen hätte vor 15 Jahren entschieden, massiv in Robotik zu investieren. Heute könnte es führend in humanoider Robotik sein – einer Technologie, die in den nächsten Jahrzehnten riesige Märkte erschließen wird. Aber vor 15 Jahren hätte man das als kostspieligen „Nice-to-Have“-Luxus abgetan und der institutionellen Forschung überlassen. Träumerei.
Doch es ist nie zu spät, mit dem Vordenken zu beginnen. Wo könnten wir also heute vordenken? Ein spannendes Feld ist die kognitive Robotik – und damit meine ich nicht nur die Roboterarme in Fabriken, sondern auch humanoide Roboter, die in der Lage sind, komplexe Aufgaben zu lösen und mit Menschen zu interagieren, um in Bereichen wie Pflege, Bildung oder Logistik zu unterstützen.
Die Zahlen sprechen für sich: Eine aktuelle Studie schätzt, dass die globale Robotikindustrie bis 2030 einen Marktwert von über 200 Milliarden Euro erreichen könnte.
Was hier riesig klingt, ist in Wahrheit ein weiteres Beispiel für fehlendes Vordenken. Denn wenn man beachtet, dass allein China plant, bis 2030 über 30 Millionen humanoide Roboter zu bauen, die nach heutigen Maßstäben in Europa einen Verkaufswert von etwa 1,4 Billionen Euro hätten, ist die zuerst genannte Schätzung schon bei weitem überboten. Und jeder Vordenker wird sich auch ohne weitere Zahlen daraus ableiten können: Dieser Markt wird viel größer sein, als alles, was wir je gesehen haben. Denn wenn allein China derart vorlegt, wird der gesamte Westen sich daran messen und mithalten müssen, um nicht als unproduktives Industriemuseum zu enden.
In Deutschland könnte diese Technologie dann nicht nur neue Arbeitsplätze schaffen, sondern auch bestehende Herausforderungen lösen. Nehmen wir das Rentensystem: Wenn humanoide Roboter zunehmend produktive Arbeit übernehmen, könnten sie einen Teil des Beitrags zu Rentenkassen leisten. Unternehmen sparen durch Robotik schließlich viel Geld ein und steigern ihre Effizienz. Da könnte man im Sinne der Gemeinschaft ansetzen. Für manche Unternehmer vielleicht eine unpopuläre Entscheidung, aber eine, die das Potenzial hat, den langfristigen Frieden in unserer Gesellschaft zu sichern.
Politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger tragen heute eine immense Verantwortung. Ihre Gehälter und Boni reflektieren die Erwartung, nicht nur zu verwalten, sondern die Zukunft aktiv zu gestalten. Wer nur erklärt, warum Dinge schiefgelaufen sind, hat den Kern seines Jobs nicht verstanden. Es geht darum, Probleme zu vermeiden, bevor sie entstehen. Ja, Vordenken erfordert Mut. Es bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die nicht immer populär sind. Aber genau hier liegt die Chance: Wer heute mutig vorangeht, kann nicht nur Herausforderungen meistern, sondern auch ein Vorbild für andere werden.
Die Zukunft wartet nicht. Sie entsteht, während wir sprechen – oder während wir schweigen. Der Unterschied liegt darin, ob wir sie aktiv mitgestalten oder uns später von ihr überrollen lassen. Vordenken ist keine Option, es ist eine Pflicht. Für Unternehmen, für Regierungen, für jeden von uns.
Für mich persönlich ist die Beschreibung „Vordenker“ keine Bürde, sondern eine Auszeichnung. Denn wie sagte Oscar Wild so schön: „Die Zukunft gehört denen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden.“