Der richtige Zeitpunkt

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Vom schmalen Wahrnehmungsgrat zwischen Schwätzer und Macher.

Visionen brauchen Zeit, bergen Risiken, sind nicht physisch greifbar und selbst als blanke Formulierung oft unfertig. Sie entwerfen das Bild einer möglichen Zukunft.

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Wann ist in Deutschland der richtige Zeitpunkt, sich mit einer visionären Idee in die Öffentlichkeit zu wagen? Unsere Mentalität fordert, dass man sich erst beweisen muss, bevor man ernst genommen wird. Visionen basieren jedoch auf Vorstellungskraft und Glauben. Erst die Zukunft wird zeigen, ob sich ihr Versprechen einlöst. Visionen brauchen daher Zeit, bergen Risiken, sind nicht physisch greifbar und selbst als blanke Formulierung oft noch unfertig. Sie entwerfen das Bild einer möglichen Zukunft.

Wann beginnt man bestenfalls, visionäre Gedanken und Pläne mit der Öffentlichkeit zu teilen? Insbesondere im bodenständigen Deutschland?

Ich ertappe mich immer wieder bei dieser Frage. Redet man zu früh, wird man nicht ernst genommen und schnell als Schwätzer oder Größenwahnsinniger abgestempelt. Man riskiert, mit eigenen Vorstellungslücken und unfertigen Gedanken in einer Weise konfrontiert zu werden, die schlimmstenfalls das eigene Vertrauen in die Sache beschädigen. Redet man zu spät, haben Silicon Valley oder Asien die Vorreiterrolle übernommen. Aber gar nicht reden? Das ist auch keine Lösung, denn ohne Unterstützung, Zuspruch und konstruktiv-kritische Wegbegleiter ist noch kein Unternehmensgründer je erfolgreich geworden.

Dieser Spagat zwischen zu früh und zu spät ist ein ständiger Begleiter, wenn man hierzulande große Pläne hat. Wann immer eine große Vision scheitert, werden in Deutschland schnell jene Stimmen laut, die es schon immer gewusst haben wollen und verderben damit – sicher ohne sich darüber bewusst zu sein – auch für viele künftige Visionäre das Stimmungsumfeld.

Deutschland hätte als Standort massiv profitiert, wenn unter zehntausend Start-Ups nur ein Apple, Amazon oder Google gewesen wäre!

In den USA werden Visionen regelmäßig gefeiert. Die Steve Jobs und Elon Musks dieser Welt haben ihre Visionen früh geteilt und sind damit nicht nur erfolgreich geworden, sondern haben ganze Industrien geprägt. Der Mega-Erfolg einiger weniger Tech-Unternehmen ermöglichte eine Gründerkultur, die hunderte und tausende erfolgreiche, kleinere Unternehmen hervorgebracht hat, von denen wir in Deutschland nie gehört haben, die aber dazu beitragen, dass der Bundesstaat Kalifornien allein eine der 10 größten Volkswirtschaften der Welt darstellen würde.

Auch Deutschland hätte als Standort massiv profitiert, wenn unter zehntausend Start-Ups nur ein Apple, Amazon oder Google gewesen wäre – selbst wenn gleichzeitig tausende andere Visionen gescheitert wären, hätte dies unvorstellbare Mengen an Risikokapital nach Deutschland gezogen.

Doch Deutschland ist von Altkanzler Helmut Schmidt geprägt, der einmal sagte: “Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Doch meiner Meinung haben wir diese Aussage jahrzehntelang völlig falsch interpretiert und in unserem kollektiven Unterbewusstsein falsch verknüpft. 

Denn – so paradox es klingen mag – in den 70er-Jahren war diese bodenständige  Haltung die einzig Richtige! Es war die Art von Vision, die Deutschland damals brauchte. Und zwar aus zwei Gründen:

Erstens hatte sich das Land gerade in etwas mehr als zwei Jahrzehnten aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet, als Helmut Schmidt im Amt des Finanzministers mit der Ölkrise konfrontiert war. Das hat ihm mutmaßlich klar vor Augen geführt, wie zerbrechlich Deutschland noch war. Eine bodenständige und solide Wirtschaftspolitik war zwingend nötig, um den frisch gemackenen Wohlstand der Republik zu erhalten. Für unsichere Vorhaben oder eben Visionen sah er berechtigterweise keinen Spielraum – Stabilität war das Gebot der Zeit.

Und zweitens: Es gab einen offensichtlichen Wohlstandstreiber in Deutschland: Die Autoindustrie mit ihren Zulieferern. Wären wir damals, vor 30 oder 40 Jahren schon die Vision vom Elektroauto angegangen – es hätte der deutschen Wirtschaft komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Wir sehen ja, wie die Industrie hierzulande selbst heute, in Zeiten eines stabilisierten Wohlstands mit diesen Umwelzungen gefordert und teilweise überfordert ist.  

Ich erinnere mich noch an die globale Finanzkrise von 2008. Deutschland wusste, wir sind die Champions im Autosektor und müssen nur etwas abwarten, bis alle wieder unsere Autos kaufen. Konkurrenz gab es nicht. Der Fehler war, dass wir nicht nach dieser Krise, als es 2010-2014 kräftig bergauf ging, aus der starken Position heraus eine global tragfähige Visionen für die Zukunft der Mobilität entwickelten und deren Eckpfeiler bestimmten.

Das ist der perfekte Zeitpunkt!

Unsere Ingenieure und Forscher entwickeln bahnbrechende Technologien, unsere Mittelständler sind weltweit erfolgreich. Oder soll ich schreiben: Sie waren erfolgreich? Tatsächlich haben wir uns in den vergangenen 20 Jahren, als wir die Mittel und den Rückenwind für Visionen gehabt hätten, auf unserem Wohlstand ausgeruht, statt an die Zukunft zu denken. Allerdings ist es noch nicht zu spät: Gerade jetzt, wo neue Technologien und globale Herausforderungen auf uns zukommen, brauchen wir Visionen mehr denn je. Wir stehen vor disruptiven Veränderungen in den Bereichen Klimawandel, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung. Ohne Visionen wird es da keine neuen Lösungen geben, die auch in Deutschland den erarbeiteten Wohlstand langfristig sichern.

Und genau hier entsteht das Dilemma: Deutschland tut sich schwer, das Paradigma eines Helmut Schmidt loszulassen. Visionäre werden eher skeptisch beäugt – solange sie noch nicht bewiesen haben, dass ihre Ideen funktionieren.

Deshalb hadere ich – wie auch andere Visionäre in Deutschland – damit, mit großen Visionen an die Öffentlichkeit zu gehen, ehe ich etwas Funktionierendes vorweisen kann. Der sogenannte „Proof of Concept“ ist nicht nur wichtig, um Skeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und die eigene Vision zu prüfen. Wer zu früh ohne Proof of Concept an die Öffentlichkeit geht, riskiert, dass etablierte Unternehmen sich die Vision zu eigen machen und sie – dank großer Ressourcen – selbst realisieren. Andererseits könnten diese Unternehmen auch die richtigen Investoren und Partner werden. Das hängt stark von deren Führungspersonal und Firmenpolitik ab, die man aber von außen selten einschätzen kann.

Die Wahrheit ist wahrscheinlich: Das Finden des “perfekten” Zeitpunkts für das Teilen einer Vision obliegt dem taktischen Instinkt des Visionärs selbst. Vermutlich macht dieser Instinkt sogar den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg aus.

Und manchmal ist die Lösung wohl auch, eine Vision scheibchenweise zu entblättern. Die berühmte Salamitaktik. Die Kunst liegt dann darin, die Vision Schritt für Schritt mit der Realität zu verknüpfen, die uns umgibt. Es wird schwierig sein, in Deutschland einen Hype zu schüren. Stattdessen muss man Visionen hierzulande als etwas präsentieren, das ambitioniert und machbar zugleich ist und darlegen, auf welcher Wurzel sie entsprießen. Aber jeder Visionär und jeder Gründer ist letztlich auf das Ökosystem angewiesen, in dem er gründet. Und das wirtschaftliche Ökosystem Deutschland muss dringend lernen, dass Scheitern zum Innovationsprozess dazugehört. Eine Vision ohne Rückschläge gibt es nicht. Wenn Visionäre warten, bis alle Unsicherheiten ausgeräumt sind, wird die Öffentlichkeit wahrscheinlich nie etwas von ihrer Vision erfahren. Oder anders gesagt: Der richtige Zeitpunkt, eine Vision zu veröffentlichen, hängt auch immer davon ab, ob die Gesellschaft sie hören will und bereit ist, über das Bekannte hinauszudenken. Wenn dies – wie leider derzeit auch in Deutschland – nicht gegeben ist, wird ein Visionär riskieren müssen, seine Idee auch zu teilen, selbst wenn das Umfeld nicht optimal ist. Allerdings habe ich selbst beobachtet, dass man in wenigen Monaten ein solches Umfeld auch positiv umgestalten kann. Vor zwei Jahren hat in Deutschland niemand außer mir von kognitiver Robotik geredet. Heute kann ich mich vor Interviewanfragen und Vortragsterminen kaum retten.

Die Mitverantwortung der Gesellschaft

Vielleicht liegt die Antwort auf die Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, seine Vision zu teilen, darin, wie klar man als Visionär seinen eigenen Weg dorthin vor Augen hat. Kann man die ersten Schritte erklären? Kann man hier und jetzt andere schon mit einem Teilaspekt der eigenen Vision begeistern? Wenn ja, dann raus damit! Visionen müssen reifen. Sie wachsen selten im stillen Kämmerlein, sondern brauchen Unterstützung, Feedback und natürlich Kapital, um realisiert zu werden.

Wenn alles hundertprozentig sicher, plausibel und greifbar ist, dann ist nur eines gewiss: Es handelt sich nicht um eine Vision. Selbst beim Kauf eines Autos kann man sich nie ganz sicher sein … und wir gehen das Risiko wieder und wieder ein. Warum nicht, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht?

Wenn Gründer in Deutschland Sorge haben müssen, dass die Gesellschaft ihre Visionen belächelt, dann werden weiterhin viele Züge in Richtung Asien und Silicon Valley abgefahren sein, in denen deutsche Visionäre sitzen, die hier nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren.

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