
Souverän ist, wer Innovation zu Fortschritt macht
Warum Europa mehr braucht als gute Ideen
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Anfang Juni, bei den EU Industry Days in Rzeszów, kam im Anschluss an mein Panel ein Vertreter der Europäischen Kommission auf mich zu. Wir hatten gerade über Robotik, digitale Souveränität und Europas Rolle im globalen Wettbewerb gesprochen, als er mich fragte: »Herr Reger, was braucht Europa eigentlich am dringendsten, um wirklich souverän und schlagkräftig zu werden?«
Da ich diese Frage oft höre, habe ich inzwischen eine kompakte Antwort parat:
»Europa hat viele gute Ideen. Aber ohne solides Fundament bleiben sie Luftschlösser. Wir brauchen deshalb dringend einen stabilen Unterbau für Fortschritt! Also Strukturen, in denen wir Ideen erfolgreich machen können.«
Ja, davon bin ich überzeugt! Denn in den vergangenen Jahren habe ich nicht wenige technische Entwicklungen gesehen, die brillant sind. Doch sie scheiterten dann jenseits des Labors, weil das Umfeld nicht bereit dafür ist. Europa leidet nicht an Ideenmangel – wir haben eine Strukturkrise!
Innovation war in Europa nie das Problem
Wer die Entwicklung Europas über die vergangenen einhundertfünfzig Jahre betrachtet, stellt fest: Innovation war nie unser Problem. Allerdings bringt uns Innovation allein eben auch nicht weiter. Was wir wollen, ist Fortschritt. Und Fortschritt entsteht dort, wo Innovationen auf eine tragfähige Infrastruktur treffen. Doch meine ich nicht nur die sichtbaren Dinge, wie das Glasfaser-Netz oder Autobahnbrücken. Ebenso wichtig sind die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Sie sind ein Spiegelbild unseres Mindsets und bilden das Ökosystem, in dem die Idee gedeihen kann – oder eben nicht.
Stellen wir uns zunächst der Tatsache, dass Innovation und Fortschritt nicht ein und dieselbe Sache sind! Eine neue Technologie oder Geschäftsidee – ganz egal ob digital oder physisch – kann im volkswirtschaftlichen Sinne erst dann Wirkung entfalten, wenn sie weithin akzeptiert wird und den Alltag der Menschen prägt.
Jedoch: Viele europäische Innovationen der jüngeren Geschichte bekamen diese Chance in Europa nicht. Sie verschwanden aber deshalb nicht von der Weltbühne, sondern entwickelten ihre systemische Wirkung eben anderswo – und sorgen dort für Milliardengewinne und entsprechende Steuereinnahmen:
- Um 1900: In Europa wird das Kino erfunden, wenig später das Fernsehen. Doch in Kalifornien, in Hollywood entsteht daraus eine Milliardendollar-Industrie für Inhalte, und Asien erkennt die Bedeutung einer massenhaften und billigen Produktion von Unterhaltungselektronik und Fernsehgeräten.
- Der erste programmierbare Computer: Entwickelt und gebaut von Konrad Zuse in Deutschland in den vierziger Jahren. Doch in Zeiten von Krieg und dann Wiederaufbau blieb der Computer eine Vision ohne Unterstützung. Zuse war seiner Zeit weit voraus, und Deutschland war nicht bereit für diese Zukunft – ein Paradebeispiel dafür, wie Innovation ohne Infrastruktur und Mindset verpufft. Jahrzehnte später brachten Bill Gates und Steve Jobs den Computer in die Wohnzimmer weltweit und schufen die Grundlage für ein neues Zeitalter.
- Das MP3-Format. Erfunden und entwickelt am Fraunhofer-Institut in Deutschland und schnell genutzt in aller Welt. Aber erst Apple schuf – mit riesigen Investitionen – mit iPod und iTunes eine Plattform, die die Musikwelt veränderte.
Kreativer Erfindergeist war und ist reichlich vorhanden in Europa. Auch visionäre Unternehmer mit Mut zur Skalierung haben wir, sonst wäre „Das Auto“ nicht vor allem eine europäische Erfolgsgeschichte und SAP nicht unter den TOP-5-Softwareunternehmen der Welt.
SAP ist insofern etwas Besonderes, weil dieses Unternehmen in einer Zeit nach einem grundlegenden “Shift” unseres Mindsets entstand: Nach den zwei Weltkriegen wuchs in Europa nicht nur endlich der Wohlstand, sondern verständlicherweise auch der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität. So entwickelte sich unsere sprichwörtliche, bodenständige Natur. Die Bereitschaft, Etabliertes zu „challengen“ und für Besseres aufs Spiel zu setzen nahm stetig ab. Parallel wuchs einer Skepsis gegenüber Neuem – gegenüber allem, was gewachsene Strukturen und Prozesse gefährden oder herausfordern könnte.
Beispiel Kohlepfennig: Die Umlage, die 1981 zur Subventionierung des Steinkohlebergbaus in Deutschland eingeführt wurde, war ein politisch und moralisch verständlicher Schritt. Aber ökonomisch? Nüchtern und nachhaltig betrachtet wurde viel Geld in den Erhalt einer etablierten Industrie investiert, obwohl diese schon damals nicht als zukunftsfähig galt.
Uns lähmt der Reflex, Bestehendes zu schützen – statt Neues zu fördern
Während Deutschland also versuchte, die Vergangenheit zu konservieren, entstanden zu Beginn der Achtzigerjahre im Silicon Valley die Grundlagen zu unserer digitalen Gegenwart. IBM brachte den ersten PC auf den Markt – mit Software von Microsoft, einem kleinen, aufstrebenden Unternehmen. Apple launcht den Lisa-Computer, dann den Macintosh mit grafischer Benutzeroberfläche und Maus. Cisco wird gegründet – später ein Schlüsselspieler für die Netzwerktechnologie des Internets. Es begann die Ära des Wagniskapitals, das gezielt junge Tech-Firmen förderte. Staat und Gesellschaft spielten dabei eine indirekte, aber bedeutende Rolle: durch frühe Hochschulförderung (DARPA, Stanford), durch offene Märkte, wenig Regulierung und durch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz für Scheitern und Neuanfang.
Auf der anderen Seite der Welt, bei uns im alten Europa, entwickelte sich dagegen ein Reflex, Bestehendes zu schützen, wo Neues gefördert und gefordert werden sollte. Das lähmt unseren Kontinent wirtschaftlich bis heute – obwohl das Potenzial für Fortschritt da wäre. Solche Beispiele für den Schutz oder die Bevorzugung etablierter Systeme gibt es unzählige: Angefangen bei der jahrzehntelangen Dieselsubventionierung, über die EEG-Umlage, bei der große Unternehmen ausgeklammert und nicht belastet wurden, bis hin zur Subventionierung fossiler Heizsysteme bis weit in die 2010er Jahre hinein. Auch die verpasste Digitalisierung in der deutschen Verwaltung lässt sich auf dasselbe Muster zurückführen: den Schutz bestehender Strukturen und Abläufe.
Brüssel: Aufholen mit Ansage!
Inzwischen hat Brüssel erkannt, dass wir von der Welt abgehängt werden – und will mit Ansage aufholen. Doch entkommen wir dabei dem eben beschriebenen Muster?
Die EU fördert seit Jahren mit großem Engagement alles, was verspricht, Europa in Sachen künstliche Intelligenz unabhängig von den USA zu machen. Es werden technisch exzellente Systeme entwickelt, doch in der Praxis haben sie ein entscheidendes Problem: Sie orientieren sich an politischen Vorgaben, nicht an den Bedürfnissen des Marktes. Sie funktionieren nur isoliert. Es fehlt an Schnittstellen zu den Systemen, die bereits unseren Alltag bestimmen. Es fehlen gemeinsame Standards, ein rechtlicher Rahmen, die Bereitschaft zu teilen, sich der Welt zu öffnen, und auch die Sicherheit, dass teure Entwicklungen nicht schon morgen wegreguliert werden.
Vor etwa 25–30 Jahren diskutierten wir in Deutschland darüber, inwieweit Shopping-Center auf der grünen Wiese eine Gefahr für unsere Innenstädte sind, während Amazon gerade dabei war, das Einkaufen insgesamt zu revolutionieren und einfach einen eigenen, digitalen und internationalen Marktplatz schuf. Europa kümmerte sich derweil um einen gemeinsamen Binnenmarkt, der vor allem der Old Economy neue Absatzmöglichkeiten brachte. Die Digitalwirtschaft – lange als Spielwiese für Nerds und Spekulanten belächelt – brachte mit T-Online, Arcor oder Wanadoo zunächst nur wenige Firmen hervor. Sie blieben nationale Inseln und hatten kaum globale Ambitionen. Gleichzeitig arbeitete man in Seattle bereits an Amazon Web Services (AWS), dem heute größten Cloudanbieter der Welt. Amazon durfte sieben Jahre in Folge hohe Verluste schreiben, weil Investoren an das Konzept von Skalierung und Infrastruktur glaubten.
Erst kam der Motor, dann der Sicherheitsgurt.
Und hier zeigt sich der wesentliche Unterschied im Mindset: Während in den USA Skalierung als zentraler Erfolgsfaktor gilt – ganz gleich, ob ein Geschäftsmodell anfangs Gewinne abwirft oder nicht –, wird sie in Europa skeptisch beäugt. Wachstum weckt Argwohn in Politik und Medien. Was groß wird, gerät unter Generalverdacht, zu mächtig oder zu kapitalistisch zu werden. Was in sozialstaatlicher Hinsicht durchaus berechtigt ist, verhindert aber andererseits, dass aus Innovation irgendwann systemrelevante Infrastruktur wird. Echter Fortschritt braucht aber die Chance, sich groß zu entfalten, bevor er bewertet oder reguliert wird. Wer Neues erst dann erlaubt, wenn es schon perfekt reguliert und kontrollierbar ist, bekommt nie die Dynamik hin, die echte Transformation auslöst. Oder wie ich oft sage: Erst kam der Motor, dann der Sicherheitsgurt. Wer permanent Überholtes subventioniert, also Kapital an auslaufende Technologien bindet, verzögert notwendigen Strukturwandel.
Roboter werden ein Alltagsprodukt sein
Ich wünsche mir ein Europa, das versteht: Ein App Store braucht hunderttausende Entwickler. Ein Forschungslabor funktioniert nur im Austausch mit der Außenwelt. Ein Roboter wird nur zum Mainstream-Produkt, wenn nicht die Datenschutzgesetze für alle Beteiligten ein größeres Risiko darstellen, als es ein Roboter selbst je sein kann. Den nächsten großen Fortschritt werden wir dann erreichen, wenn sich Roboter mühelos in bestehende IT- und Datenlandschaften integrieren lassen. Und wenn dann Unternehmen und Anwender mit minimalem Aufwand eigene, neue Anwendungen und Fähigkeiten für Roboter erstellen können, wird Robotik zum Alltagsprodukt skalierbar.
Wenn wir das diesmal hier in Europa hinbekommen, werden wir in einem der wichtigsten Zukunftsfelder technologisch und wirtschaftlich souverän sein. Wir werden die entstehenden Märkte und Standards weltweit aktiv gestalten. Das wiederum wird uns die internationale Bedeutung und damit auch die Souveränität zurückgeben, die wir in den letzten zehn, zwanzig Jahren aufgegeben haben. So machen wir aus Innovation – der kognitiven Robotik – Fortschritt.